Im August 2020 wurde die Ludwigstraße 71 für fast zwei Wochen besetzt! Das Haus sah im Sommer 2020 von außen unbewohnt aus, Menschen ohne Obdach nutzten es für ihre Zwecke. Das Haus war also offen. Im Haus war es sehr zugemüllt, Spritzbesteck konnte in einigen Ecken erspäht werden, von den Wänden rollte sich die vergilbte Tapete runter, viel Schutt und Asche waren im ganzen Haus verteilt. Es galt, das Haus vor dem Verfall zu schützen. Es wurde aufgeräumt und Platz geschaffen. Das Nutzungskonzept: kollektive Wohnräume und Notfallwohnen in den oberen Etagen und der Öffentlichkeit zugängliche Räume sowie Projektwerkstätten im Erdgeschoss. Beratungsstellen und Initiativen hätten ebenfalls ihren Platz im Haus finden können. Die Kellerräume bieten Raum für Proberäume für Bands. Der verwilderte Garten sollte ebenfalls für die Gemeinschaft zugänglich gemacht werden, mit der Möglichkeit, Hochbete anzulegen und einen Schulgarten zu etablieren.
Schon während der Zeit der Besetzung gab es eine breite Form der Selbstorganisation: Küfas (Küche für alle), Nachbar*innenversammlungen und politische Veranstaltungen sowie gemeinsame Abende wurden selbstständig und eigenverantwortlich mit anderen Menschen zusammen auf die Beine gestellt. Nach der ersten Corona-Welle war die Luwi71 ein Ort der Vernetzung, des Austausches und des Beisammenseins, all das, was während der sozialen Isolation durch die Pandemie unmöglich war. Doch warum braucht es dazu eine Besetzung? Sollen wir doch ins Café gehen, würde eins vielleicht sagen.
Es steckt eben mehr dahinter: Besetzungen schaffen unkommerzielle Freiräume, in denen wir sein können, ohne uns an aufgedrückte Regeln und Normen halten zu müssen. Hierbei geht es uns nicht darum, ohne Regeln fürs soziale Miteinander leben zu wollen. Vielmehr wollen wir selbst aushandeln, wie wir mit einander leben und umgehen wollen. Das können wir nur in solchen Freiräumen schaffen, wo wir sicher vor den Leistungsansprüchen und Zwängen der breiten Gesellschaft sind. In der Ludwigstraße wurden keine Menschen vertrieben. Tatsächlich wurde sich dort leer stehender Raum angeeignet und mit Leben gefüllt, was laut der deutschen Rechtssprechung eine Straftat darstellt. Es ist ein Unding, Häuser einfach verkommen zu lassen. Die falsche Hoffnung von Städten, irgendein Investor würde ihre alten Häuser aufkaufen und wieder schön machen, und erstrecht privates Eigentum, trägt maßgeblich dazu bei, dass Häuser leer bleiben und verfallen. Wer so etwas tut, sollte enteignet werden.
“Seit es Hausbesetzungen gibt, wurden diese kriminalisiert. Die viel zitierte Enteignung von Eigentum zum Wohle der Allgemeinheit aus dem deutschen Grundgesetz (§14 Abs. 3) findet zwar oft genug seine Anwendung, wenn Wälder Autobahnen weichen müssen oder ganze Dörfer wegen des Braunkohleabbaus verschwinden. Leerstehende Häuser scheinen davon jedoch ausgenommen zu sein. Es entsteht der Eindruck, dass mit dem „Wohle der Allgemeinheit“ vor allem das „Wohl der deutschen Wirtschaft“ gemeint ist. Und dieser Eindruck täuscht nicht. Hausbesetzungen stellen das Bedürfnis der Menschen vor die Profitinteressen von Immobilienbesitzer*innen. Das Eigentumsrecht ist eine der fundamentalsten Säulen unseres Wirtschaftssystems und der Staat (mit seinem Polizeiapparat und seinem Justitzsystem) dient als Verteidiger dieses Systems.”
Historisch betrachtet wurden Hausbesetzungen seit jeher von Repressionen überzogen. Auch im Fall der Luwi 71 wird sich verschiedenster Methoden des Rechtsstaates bedient: DNA-Entnahme, das Vermessen der Ohren, die akribische Spurenuntersuchung, -sicherung und -auswertung von hunderten Beweisstücken für einen Bagatelldelikt und weitere der Schikane und Einschüchterung dienender Mittel. In anderen Fällen, wie der Besetzung der Bornaischen Straße 34, in der die DNA-Entnahme ebenfalls erzwungen wurde und weiterhin soll. Ein weiteres Beispiel findet sich im Putzi in Dresden, was völlig überzogenerweise und unnötig martialisch vom SEK geräumt worden ist. Die Liste lässt sich um Einiges weiter fortsetzen. Aber warum?
“Die Wohnungs- und Stadtpolitik ist heute fast ausschließlich profitorientiert. Wichtig ist in erster Linie, dass die „Attraktivität“ der Stadt steigt, sie in Rankings möglichst hoch positioniert ist und auch genug Platz und Attraktionen für zahlungskräftige Tourist*innen angeboten werden können. Die „neoliberale“ Stadt verlangt nach der systematischen Aufwertung von Vierteln im Innenstadtbereich. Diese Aufwertung wird als Segen für die Einwohner*innen verkauft, ist ein solcher aber ausschließlich für ein wohlhabendes, bürgerliches Klientel. Diesen Prozess betrachten wir als die Gentrifizierung der Stadt. Diese ist heute, wo Stadtentwicklung, in Form von Immobilienverwertung, zu einer der wichtigsten Investitionsmöglichkeiten wurde, zur Regel geworden.”
In solchen Städten haben Freiräume und Besetzungen keinen Platz und dass, obwohl sie in Leipzig eine lange Tradition haben. In den 90ern haben Hausbesetzer*innen viele Häuser durch Instandbesetzung vor dem Abriss gerettet. Erst dieses Engagement und der Aktivismus der Besetzer*innen von damals hat Leipzig zu der Stadt gemacht, die sie heute ist, in der so viele Menschen wohnen wollen.
“Während neue Orte für alle, die es sich leisten und sich damit identifizieren können, geschaffen werden, warten viele Menschen vergebens darauf, in der Stadtplanung berücksichtigt zu werden. Ihnen werden Räume genommen und gleichzeitig dem Verfall preisgegeben. Häuser stehen Jahre lang leer und werden zudem noch zugemauert und abgeriegelt, damit es auch ja niemand wagt sie zu betreten. Nicht selten liegt das daran, dass sich kein*e neue*r Investor*in findet oder auf Baugenehmigungen gewartet werden muss.” Wenn wir uns aktuelle Bilder der Ludwigstraße ansehen, dann sehen wir ein zugemauertes Erdgeschoss, ebenso die erste Etage. Sie steht leer und es passiert genau nichts!
“Nicht wirklich neu, dafür aber immer noch nicht umgesetzt, ist der Gedanke, dass es Bedürfnisse innerhalb städtischer Lebensweisen gibt, die nach Orten des unkommerziellen Austauschs und Miteinanders streben. Dass diese Bedürfnisse tatsächlich existieren und nicht befriedigt werden, zeigt nicht zuletzt der große Rückhalt, den Hausbesetzungen oft aus der Stadtgesellschaft und teilweise sogar aus bürgerlichen Medien erfahren. Denn Besetzungen von Häusern zielen in radikaler Weise auf die Verwirklichung dieser Bedürfnisse ab.” Die Debatten und politische Aufmerksamkeit während der Besetzung der Ludwigstraße 71 war enorm. Regional und überregional wurde das Thema der Mieten, Freiräume und Stadtentwicklung in den Medien und in den Parlamenten heiß diskutiert.
“Es mangelt nicht nur in [Leipzig] an Jugend- und Freiräumen, die selbstverwaltet sind und einen emanzipatorischen Anspruch vertreten. Dadurch wird es versäumt, Grundlagen einer freien Kultur für alle zu schaffen, einer Alternative der kapitalistischen Gesellschaft und des Ausschlusses. Diese Orte sind aber nach wie vor notwendig, um die Bedürfnisse der in Städten lebenden Menschen zu erfüllen. Dafür sind ebenso Wohnungen notwendig, in denen auch gewohnt werden kann, ohne jeden Monat darum bangen zu müssen, die Miete zahlen zu können. Es gibt eine Menge leerstehender Gebäude, die geeignet dafür sind, Wohn- und Kultureinrichtungen, die diesen Idealen entsprechen, aufzubauen. “
“Besetzungen und andere politische Handlungen, welche diese Ideale verwirklichen sollen, sind nicht nur Kämpfe darum, wem die Stadt gehört. Ganz im Gegenteil: Sie wollen die Stadt in ihren Grundfesten verändern, sie sind „gesellschaftliche Utopie und kollektive Forderung zugleich.“ Eine Besetzung ist auf diesem Weg immer nur ein kleiner, aber in seiner Radikalität dafür ein umso wichtigerer Schritt. Denn diese Form der Aneignung von Leerstand, während gleichzeitig so viele freie Räume fehlen, kann kurzfristige Lösungen auf dem Weg zu einer Stadt, in der sich alle wohlfühlen, schaffen. Sie ist nicht nur auf die Beteiligung der Nachbar*innenschaft angewiesen, sondern schafft spontane Partizipationsmöglichkeiten, wie sie sonst leider selten zu finden sind.” In Leipzig verschwinden solche Orte sukzessive aus dem Stadtbild, sei es das Trautmanns, das Radlager oder die Brache. Freiräume schaffen ist kein Verbrechen!
> wir haben uns in dem Statement an Texten von “Wir besetzen Dresden” angelehnt und diese hier durch Zitate hervorgehoben. Diese sind, neben anderen tollen Artikeln, alle auf der Seite https://wirbesetzendresden.blackblogs.org/ zu finden.
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